Mit Hauptschulabschluss in die Ausbildung 22. Juni 2020 Ratgeber Potsdam/Bremen – In der Jugend kommt vieles zusammen: Auseinandersetzungen mit den Eltern, mit der Schule – und nicht zuletzt mit sich selbst. Wer die Schule mit einem Hauptschulabschluss verlässt, ist schon nach der 9. oder 10. Klasse mit der Frage konfrontiert, wohin es beruflich gehen soll. Es sind aber immer weniger junge Menschen, die mit einem Hauptschulabschluss ins Arbeitsleben starten. Wie der Berufsbildungsbericht 2020 der Bundesregierung zeigt, lag deren Zahl 2018 um knapp 77 000 Personen niedriger als zehn Jahre zuvor. Laut Statistischem Bundesamt hatten 2018 rund 16 Prozent der Abgängerinnen und Abgänger allgemeinbildender Schulen einen Hauptschulabschluss, rund 42 Prozent einen mittleren Abschluss und knapp 35 Prozent eine allgemeine Hochschulreife. Was bedeutet das für die Chancen von Hauptschulabsolventen auf dem Ausbildungsmarkt? Noten und Abschlüsse sind nicht alles Jörg Sydow, Leiter des Projekts «Passgenaue Besetzung von Ausbildungsplätzen» bei der Handwerkskammer Potsdam, macht ihnen Mut. Er habe den Eindruck, dass die Bedeutung von Noten und Abschlüssen in der dualen Ausbildung abgenommen habe. Das liege vor allem am Fachkräftemangel. «Mit einem Hauptschulabschluss kann man sich definitiv im Handwerk bewerben – aber vielleicht nicht in jedem Betrieb und jedem Beruf», sagt Sydow. Denn in einigen Bereichen ist die Konkurrenz groß – beispielsweise bei den angehenden Elektronikern und Kfz-Mechatronikern. Gerade dreieinhalbjährige Ausbildungen seien theoretisch sehr anspruchsvoll. Der Projektleiter weist deshalb auch auf zweijährige Ausbildungsangebote hin – beispielsweise zum Ausbaufacharbeiter. Gesucht sind nicht nur Musterschüler Der Trend zu höheren Bildungsabschlüssen führe zwar dazu, dass der Hauptschulabschluss an Anerkennung verloren habe, bestätigt Björn Reichenbach, Referent im Geschäftsbereich Aus- und Weiterbildung bei der Handelskammer Bremen. Auf dem Arbeitsmarkt biete er trotzdem gute Chancen. «Wir bemerken, dass die reine Schulnote bei den Betrieben weniger zählt.» Schlechte Noten hätten nicht unbedingt etwas mit den Fähigkeiten zu tun, sondern könnten auch andere Ursachen haben – beispielsweise Probleme im Elternhaus, sagt Sydow. Viele Betriebsinhaber und -inhaberinnen hätten dafür Verständnis – denn auch sie selbst waren nicht alle Musterschüler. Unternehmen auf der Suche nach Nachwuchs Dass sich Schülerinnen und Schüler mit Schwächen durchaus als gute Auszubildende erweisen können, hat auch Andree Schölzel erlebt. «Man kann nicht sagen, dass jemand, der eine vier in Deutsch hatte, nicht wissbegierig ist», so der Personalleiter der Hegemann-Gruppe. Das Unternehmen mit Sitz in Bremen ist im Bau-Bereich, in der Industrie und in der Touristik tätig. Vor allem im Bau und in der Gastronomie herrsche Nachwuchsmangel, sagt Schölzel. «Da sind wir um jeden dankbar, den wir begeistern können.» Auch ohne herausragende Zeugnisse sei es nicht schwer, beim Vorstellungsgespräch zu überzeugen, betont Anna Reimann, die bei der Hegemann-Gruppe für Ausbildung und Personalentwicklung zuständig ist: «Es ist gut, wenn jemand Interesse mitbringt und ein bisschen was zu sich selbst erzählen kann.» Mit Motivation überzeugen Wer im Gespräch schüchtern sei, könne sich auch bei einem Praktikum beweisen. Ausbildungsexperte Reichenbach betont, dass es auf die Motivation ankommt. «Wenn jemand bei einer Ausbildungsmesse mit leuchtenden Augen am Stand steht, ist das für die Betriebe wie ein Sechser im Lotto.» Er rät jungen Menschen dazu, sich nicht nur in der näheren Umgebung umzugucken – sondern die Fühler weiter auszustrecken und auch nach kleineren Betrieben und unbekannteren Berufsfeldern zu gucken. Insgesamt gibt es in Deutschland einen Überschuss an Ausbildungsstellen. Ende September 2019 standen laut Berufsbildungsbericht den rund 53 000 noch offenen Stellen 24 500 unversorgte Bewerberinnen und Bewerber gegenüber. Für rund 60 Prozent der Stellen sei ein Hauptschulabschluss ausreichend gewesen. Orientierung über Einstiegsqualifizierung Ein Instrument, um jungen Menschen den Weg in die Ausbildung zu erleichtern, ist die Einstiegsqualifizierung. Mitfinanziert von der Agentur für Arbeit können sie ein sechs- bis zwölfmonatiges Praktikum absolvieren, das sie auf die Ausbildung vorbereitet. Reichenbach rät generell, frühzeitig Praktika zu absolvieren – nicht nur in den von der Schule vorgegebenen Zeiten, sondern auch in den Sommerferien. Jörg Sydow unterstreicht die Bedeutung von Qualitäten wie Pünktlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Selbstständigkeit und Teamfähigkeit. «Dass man sich auf jemanden verlassen kann, steht ganz weit oben auf der Liste.» Einige Betriebe stellten sogar gern junge Leute ein, die keine tollen Noten haben – in der Hoffnung, dass diese die Chance honorieren. «Die Bindung zum Betrieb wird dadurch stärker», sagt Sydow. Nicht jeder muss mit 17 seine Berufung kennen Bei manchen Arbeitgebern seien gerade auch ältere Auszubildende gern gesehen. Manchmal braucht es Zeit, bis der passende Beruf gefunden ist. «Wenn man mit 17 noch nicht weiß, was man machen will und keinen guten Abschluss hat, ist das Leben noch nicht vorbei», sagt Maria Schmidt von der Neuen Arbeit Brockensammlung. Die Einrichtung des evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Göttingen bietet langzeitarbeitslosen Erwachsenen und Jugendlichen Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen in verschiedenen Bereichen. Sie erlebe häufig, dass junge Leute keine guten Erfahrungen mit Lernen und Schule gemacht haben, erzählt die Pädagogin und Betriebsleiterin. «Sie haben eine schwache Frustrations-Toleranz, wenn etwas nicht sofort zu begreifen ist.» Deswegen sei es gut, erst einmal praktische Erfahrungen zu sammeln. «Das Wichtigste ist, dass sie wirklich wollen und motiviert sind.» Fotocredits: Ina Fassbender (dpa/tmn) (dpa)