Einer Ocularistin über die Schulter geschaut 2. Februar 2019 Ratgeber München – Es begann mit einem Punkt in Stefan Zimmerhansls Auge. Braun war er, so groß wie ein Stecknadelkopf. Zimmerhansl ließ sich untersuchen. Die Diagnose: Krebs. Ein Drittel des Auges musste entfernt werden. Doch der Tumor kam zurück und Zimmerhansl verlor auch den Rest des Auges. Elf Jahre später sitzt der kleine, stämmige Mann in einem hellen Raum im Norden Münchens und sieht glücklich aus. Seine Augen strahlen. Wer ihn nicht kennt, bemerkt kaum, dass er ein Glasauge trägt. «Ich habe mich ziemlich schnell damit abgefunden», sagt Zimmerhansl. Individuelle Herstellung in Handarbeit Einmal im Jahr kommt er in die Praxis von Barbara Zimmermann, denn sein Glasauge ist nach zwölf Monaten abgenutzt. Zimmermann ist Ocularistin, sie fertigt Augen-Prothesen aus Glas. «Das ist mein absoluter Traumberuf», schwärmt sie, «ich kann alles verbinden, was ich gerne mag. Man hat das Medizinische, das Künstlerische, das Psychologische.» Ihr kleines Sprechzimmer wird von einer riesigen Werkbank beherrscht, hinter der die zierliche Frau fast verschwindet. Wie lange es dauert, ein Glasauge anzufertigen, lässt sich laut Zimmermann nicht pauschal sagen. Das hänge auch von der Verletzung und der Form der Augenhöhle ab. Sie beginnt mit dem Rohmaterial, dem Menschenaugenglas, das in Lauscha im Thüringer Wald hergestellt wird. Dem bläulich schimmernden Glas wurde Kryolith beigemischt. Das Mineral macht es weicher und verringert den Schmelzpunkt bei der Herstellung. In Form kleiner Röhrchen wird es der Praxis geliefert. Über dem Bunsenbrenner schmilzt die Ocularistin ein bis zwei Zentimeter und umschließt den hinteren Teil mit den Lippen. Vorsichtig bläst sie hinein, bis sich vorne eine Kugel bildet. Filigrane Farbgebung Mit «Farbstängeln», die aussehen wie lange bunte Bleistiftminen, zeichnet Zimmermann die Irisfarbe auf die Kugel. Pro Auge verwendet sie vier bis fünf verschiedene Stängel, damit die Farbe herauskommt, die dem Auge des Patienten am ehesten entspricht. Als nächstes trägt sie ein Stück geschmolzenes Kristallglas auf. Das verleiht dem Glasauge räumliche Tiefe und lässt es echter wirken. Zum Schluss platziert sie hauchfeine, gelbe und rote Glasfäden auf der Form – die Äderchen. Kurz bevor das Glasauge fertig ist, schneidet Zimmermann aus der Kugel eine Art dicke Kontaktlinse heraus. Diese Linse schiebt sich der Patient dann zwischen die Augenlider. Es muss also niemand Angst davor haben, dass ihm eine ganze Kugel in die leere Augenhöhle gequetscht wird. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse. Ihr sei es wichtig zu betonen, dass niemand ein Auge «aus dem Kasten» bekomme, sagt Zimmermann: «Jeder erhält eine individuelle Anfertigung.» In Deutschland gibt es laut Achim Theede von der Deutschen Ocularistischen Gesellschaft ( DOG) etwa 58 Spezialisten, die Glasaugen produzieren – für rund 40 000 Menschen, denen ein Auge fehlt. Zimmermann stammt aus einer echten Ocularisten-Dynastie. Bereits ihr Großvater und Urgroßvater stellten Augen aus Glas her – wie hätte sie da etwas anderes machen können? 2016 übernahm sie das « Institut Greiner » von ihrem Onkel. Heute arbeiten dort neben ihr noch ein zweiter Ocularist und zwei Auszubildende – einer davon ist ihr Ehemann. Der Beruf seiner Frau hat ihn so fasziniert, dass er selbst lernen wollte, wie man Glasaugen herstellt. Die Ausbildung zum Ocularisten dauert etwa sechs bis sieben Jahre. Bei ihren Azubis wendet Zimmermann auch schon mal ungewöhnliche Methoden an: Damit sie lernen, sich in ihre Patienten hineinzuversetzen, werden sie für einen Tag mit einer Augenklappe zum Shoppen geschickt. Mit Einfühlungsvermögen und Fingespitzengefühl Fingerspitzengefühl braucht es also nicht nur beim Bemalen der Glasaugen. Viele kommen extrem niedergeschlagen zu ihrem ersten Termin in die Praxis. Sie haben Angst, wissen nicht, wie es weitergeht, weinen sich einfach aus. Da ist das Mädchen, das am Strand mit einer Eisenstange überfallen wurde. Oder eine Frau – angezündet vom eigenen Ehemann. Am Tag betreut Zimmermann etwa sechs Patienten. Vom Baby bis zum Greis sind Menschen jeden Alters dabei. Die Ansprüche der Patienten seien immer mehr gestiegen, findet die Ocularistin. Das hänge mit dem Schönheitsdenken in der Gesellschaft zusammen. «Früher waren die Leute einfach froh, dass sie kein Loch mehr im Kopf hatten», sagt Zimmermann. Aber es ist nicht das Kosmetische allein. Ganz so leicht hat sich Stefan Zimmerhansl nämlich doch nicht mit dem Verlust seines Auges abgefunden. Die Prothese schmerzt zwar nicht und er kann sie sogar nachts drin lassen. Am Anfang war es aber schlimm für ihn. «Du kannst dir nicht mal mehr Wasser eingießen, weil das räumliche Denken plötzlich weg ist», sagt er. Früher sei er mal ein guter Tennisspieler gewesen. Doch als Zimmerhansl dann mit dem neuen Glasauge ein Match spielte, traf er von zehn Bällen nur noch zwei. Er konnte den Abstand des Schlägers zum Ball nicht mehr einschätzen. Inzwischen funktioniere es aber wieder ganz gut – sein Gehirn hat sich daran gewöhnt. Und auch Zimmermann ist zufrieden, weil sie weiß, dass sie nicht nur das Gesamtbild seines Gesichts wiederhergestellt hat. Ab und zu nimmt sie ihre kleine Tochter mit in die Praxis. «Für sie ist das völlig normal», erzählt die Ocularistin: «Die Mama macht Augen. Und wenn jemand eins verliert, bekommt er ein neues». Fotocredits: Sven Hoppe,Sven Hoppe,Sven Hoppe,Sven Hoppe,Sven Hoppe,Sven Hoppe (dpa) (dpa)