Berlin – Jahrelang hat Uwe Boldt alles getan, damit er mit seinem Problem nicht auffällt. In der Schule saß er in der letzten Reihe. «Ich war duckmäuserisch», erzählt der 60-Jährige.

Wurde ihm beim Amt oder beim Arzt ein Formular zum Ausfüllen hingeschoben, tat er so, als hätte er seine Brille vergessen. «Die habe ich vorher in die Tasche gesteckt.» Boldt ist einer von Millionen Menschen in Deutschland mit Lese- und Schreibschwäche. Doch Boldt hat sich entschieden, etwas dagegen zu tun.

Betroffen sind 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland, davon mit knapp 3,3 Millionen die meisten mit Deutsch als Muttersprache. Sie kämpfen sich oft ein Leben lang durch den Alltag, um irgendwie durchzukommen. «Viele schämen sich in Grund und Boden», sagt die Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Anke Grotlüschen, die in Zusammenarbeit mit dem Bundesbildungsministerium nun eine große Studie zur Lese- und Schreibschwäche in Deutschland vorgelegt hat.

Es mag wenig verwunderlich sein, dass auch 2,9 Millionen Menschen mit einer anderen Muttersprache nicht richtig Deutsch lesen und Schreiben können. Aber warum ist diese Schwäche bei Deutsch als erster Sprache so verbreitet?

Oft werde das Problem quasi weitervererbt, sagt Timm Helten, Experte für Alphabetisierung. «Bei den Betroffenen wurde im Elternhaus wenig vorgelesen, die Schriftsprache spielte hier keine Rolle.» Helten arbeitet bei der Bonner Koordinierungsstelle
«Dekade für Alphabetisierung». Bund, Länder und mehrere Organisationen wollen hierbei Lese- und Schreibschwäche gemeinsam bekämpfen.

Ob Kontoauszug, Arbeitsanweisung oder Sätze auf Fahrkartenautomaten – selbst kleine Texte sind für viele eine oft kaum zu meisternde Herausforderung. «Viele haben sich damit eingerichtet und geben alles Schriftliche dem Partner oder anderen Vertrauten», sagt Helten. Bei Handys seien Betroffene auf Spracherkennung angewiesen, in der Öffentlichkeit auf Piktogramme.

Ein «Versagen» wirft Helten vielfach den Schulen vor. «Ab der vierten Klasse wird Lesen und Schreiben vorausgesetzt», sagt er. Wer es bis dahin nicht könne, bleibe oft auf der Strecke.

Uwe Boldt erzählt: «Ich weiß selbst nicht, warum ich in der Schule nicht sitzen geblieben bin.» Er erinnert sich an Vermerke in seinen Zeugnissen wie: «Aus pädagogischen Gründen versetzt». So ging das Jahr für Jahr damals in seiner Kindheit in Hamburg, wie er erzählt. Seine Erklärung: Viele Lehrer seien kurz vor der Pensionierung gewesen und hätten sich einfach nicht gekümmert. Nach Klasse acht habe er die Schule verlassen – ohne Abschluss.

Als junger Arbeiter habe er im Hamburger Hafen angeheuert, habe dort Botendienste übernommen. Später übernahm er anspruchsvollere Jobs – immer noch ohne Lesen und Schreiben. Doch eines Tages wechselte er im Hafen die Firma, und dort war alles automatisiert. «Dadurch bin ich viel mit Schriftkram in Berührung gekommen.» Boldt entschied sich, etwas zu ändern.

Die inneren Hürden, selbst etwa zur Volkshochschule zu gehen, waren für Boldt bislang stets zu groß. Schließlich hat er Timm Helten getroffen, der in seinem Job auch Betroffenen bei regionalen Projekten vor Ort hilft, die ersten Schritte aus ihrer Welt ohne Schrift zu gehen. «Bei Uwe Boldt hat sich im Betrieb einfach der Druck im Kessel erhöht», erinnert sich Helten. Boldt nahm sein Schicksal in die Hand: «Ab dem Jahr 2000 bin ich zur Volkshochschule und habe richtig gelernt.» Heute ist er Facharbeiter und bedient große Containerbrücken und Gabelstapler. Arbeitsprotokolle füllen aber oft immer noch seine Kollegen aus.

Wie Boldt haben laut der neuen Studie fast 63 Prozent der Betroffenen keinen oder nur einen geringen Schulabschluss – entsprechend wenig gewohnt sind viele es auch, später noch zu lernen. Doch in den vergangenen Jahren gab es Fortschritte: Laut einer Vorgängerstudie aus dem Jahr 2011 gab es damals noch 1,3 Millionen Menschen mehr mit Lese- und Schreibschwäche. Studienautorin Grotlüschen sieht als eine Ursache für die Fortschritte ein insgesamt gestiegenes Bildungsniveau.

Uwe Boldt erzählt: «Es fällt mir immer noch schwer, zu lernen.» Wenn er eine Weile nicht zur Schule gegangen ist oder zu Hause sein Lernprogramm angeschaltet hat, leidet der Hamburger unter Rückschritten. Doch heute genießt er es, im Internet etwa nach Grillrezepten zu stöbern – auch wenn die ein bisschen länger sind. Und anderen Betroffenen will er Mut machen, sich zu den Problemen zu bekennen und etwas dagegen zu tun.

Fotocredits: Christoph Soeder
(dpa)

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