München – Es begann mit einem Punkt in Stefan Zimmerhansls
Auge. Braun war er, so groß wie ein Stecknadelkopf. Zimmerhansl ließ
sich untersuchen. Die Diagnose: Krebs. Ein Drittel des Auges musste
entfernt werden.
Doch der Tumor kam zurück und Zimmerhansl verlor
auch den Rest des Auges. Elf Jahre später sitzt der kleine, stämmige
Mann in einem hellen Raum im Norden Münchens und sieht glücklich aus.
Seine Augen strahlen. Wer ihn nicht kennt, bemerkt kaum, dass er ein
Glasauge trägt. «Ich habe mich ziemlich schnell damit abgefunden»,
sagt Zimmerhansl.
Individuelle Herstellung in Handarbeit
Einmal im Jahr kommt er in die Praxis von Barbara Zimmermann, denn
sein Glasauge ist nach zwölf Monaten abgenutzt. Zimmermann ist
Ocularistin, sie fertigt Augen-Prothesen aus Glas. «Das ist mein
absoluter Traumberuf», schwärmt sie, «ich kann alles verbinden, was
ich gerne mag. Man hat das Medizinische, das Künstlerische, das
Psychologische.» Ihr kleines Sprechzimmer wird von einer riesigen
Werkbank beherrscht, hinter der die zierliche Frau fast verschwindet.
Wie lange es dauert, ein Glasauge anzufertigen, lässt sich laut
Zimmermann nicht pauschal sagen. Das hänge auch von der Verletzung
und der Form der Augenhöhle ab. Sie beginnt mit dem Rohmaterial, dem
Menschenaugenglas, das in Lauscha im Thüringer Wald hergestellt wird.
Dem bläulich schimmernden Glas wurde Kryolith beigemischt. Das
Mineral macht es weicher und verringert den Schmelzpunkt bei der
Herstellung. In Form kleiner Röhrchen wird es der Praxis geliefert.
Über dem Bunsenbrenner schmilzt die Ocularistin ein bis zwei
Zentimeter und umschließt den hinteren Teil mit den Lippen.
Vorsichtig bläst sie hinein, bis sich vorne eine Kugel bildet.
Filigrane Farbgebung
Mit «Farbstängeln», die aussehen wie lange bunte Bleistiftminen,
zeichnet Zimmermann die Irisfarbe auf die Kugel. Pro Auge verwendet
sie vier bis fünf verschiedene Stängel, damit die Farbe herauskommt,
die dem Auge des Patienten am ehesten entspricht. Als nächstes trägt
sie ein Stück geschmolzenes Kristallglas auf. Das verleiht dem
Glasauge räumliche Tiefe und lässt es echter wirken. Zum Schluss
platziert sie hauchfeine, gelbe und rote Glasfäden auf der Form – die
Äderchen. Kurz bevor das Glasauge fertig ist, schneidet Zimmermann
aus der Kugel eine Art dicke Kontaktlinse heraus. Diese Linse schiebt
sich der Patient dann zwischen die Augenlider. Es muss also niemand
Angst davor haben, dass ihm eine ganze Kugel in die leere Augenhöhle
gequetscht wird. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse.
Ihr sei es wichtig zu betonen, dass niemand ein Auge «aus dem Kasten»
bekomme, sagt Zimmermann: «Jeder erhält eine individuelle
Anfertigung.» In Deutschland gibt es laut Achim Theede von der
Deutschen Ocularistischen Gesellschaft (
DOG) etwa 58 Spezialisten,
die Glasaugen produzieren – für rund 40 000 Menschen, denen ein Auge
fehlt.
Zimmermann stammt aus einer echten Ocularisten-Dynastie. Bereits ihr
Großvater und Urgroßvater stellten Augen aus Glas her – wie hätte sie
da etwas anderes machen können? 2016 übernahm sie das «
Institut
Greiner
» von ihrem Onkel. Heute arbeiten dort neben ihr noch ein
zweiter Ocularist und zwei Auszubildende – einer davon ist ihr
Ehemann. Der Beruf seiner Frau hat ihn so fasziniert, dass er selbst
lernen wollte, wie man Glasaugen herstellt. Die Ausbildung zum
Ocularisten dauert etwa sechs bis sieben Jahre. Bei ihren Azubis
wendet Zimmermann auch schon mal ungewöhnliche Methoden an: Damit sie
lernen, sich in ihre Patienten hineinzuversetzen, werden sie für
einen Tag mit einer Augenklappe zum Shoppen geschickt.
Mit Einfühlungsvermögen und Fingespitzengefühl
Fingerspitzengefühl braucht es also nicht nur beim Bemalen der
Glasaugen. Viele kommen extrem niedergeschlagen zu ihrem ersten
Termin in die Praxis. Sie haben Angst, wissen nicht, wie es
weitergeht, weinen sich einfach aus. Da ist das Mädchen, das am
Strand mit einer Eisenstange überfallen wurde. Oder eine Frau –
angezündet vom eigenen Ehemann. Am Tag betreut Zimmermann etwa sechs
Patienten. Vom Baby bis zum Greis sind Menschen jeden Alters dabei.
Die Ansprüche der Patienten seien immer mehr gestiegen, findet die
Ocularistin. Das hänge mit dem Schönheitsdenken in der Gesellschaft
zusammen. «Früher waren die Leute einfach froh, dass sie kein Loch
mehr im Kopf hatten», sagt Zimmermann.
Aber es ist nicht das Kosmetische allein. Ganz so leicht hat sich
Stefan Zimmerhansl nämlich doch nicht mit dem Verlust seines Auges
abgefunden. Die Prothese schmerzt zwar nicht und er kann sie sogar
nachts drin lassen. Am Anfang war es aber schlimm für ihn. «Du kannst
dir nicht mal mehr Wasser eingießen, weil das räumliche Denken
plötzlich weg ist», sagt er. Früher sei er mal ein guter
Tennisspieler gewesen. Doch als Zimmerhansl dann mit dem neuen
Glasauge ein Match spielte, traf er von zehn Bällen nur noch zwei. Er
konnte den Abstand des Schlägers zum Ball nicht mehr einschätzen.
Inzwischen funktioniere es aber wieder ganz gut – sein Gehirn hat
sich daran gewöhnt. Und auch Zimmermann ist zufrieden, weil sie weiß,
dass sie nicht nur das Gesamtbild seines Gesichts wiederhergestellt
hat. Ab und zu nimmt sie ihre kleine Tochter mit in die Praxis. «Für
sie ist das völlig normal», erzählt die Ocularistin: «Die Mama macht
Augen. Und wenn jemand eins verliert, bekommt er ein neues».
Fotocredits: Sven Hoppe,Sven Hoppe,Sven Hoppe,Sven Hoppe,Sven Hoppe,Sven Hoppe
(dpa)