Horb – Wie viele Bewerbungen sie geschrieben hat? Jessica Schira weiß es nicht mehr so genau. Viele, sagt die 20-Jährige. «Es kamen nur Absagen – oder es gab gar keine Rückmeldung.»

Die junge Frau steht im Autohaus Daub in Horb am Neckar unweit von Stuttgart. Mit erstaunlich lockerem, selbstsicherem Lächeln berichtet sie von damals, als sie nach der mittleren Reife die Schule abbrach und bei einem Notenschnitt von «so 3,3 oder 3,4» auf Lehrstellensuche ging. Seit September ist sie Azubi in dem Autohaus – weil der Firmenchef Noten für nachrangig hält. «Wir brauchen Schaffer», sagt Unternehmer Michael Daub. Jessica Schira steht daneben und strahlt.

Die 20-Jährige ist ein Beispiel für den Azubi-Nachwuchs, der immer wichtiger wird für die deutsche Wirtschaft: Bewerber mit schlechten Noten. Die Zahl der Anwärter auf Lehrstellen nehme Jahr für Jahr wegen des demografischen Wandels und des Drangs junger Leute hin zu Universitäten ab, sagt Arbeitsmarkt-Experte Clemens Wieland von der Bertelsmann-Stiftung – dementsprechend bessere Karten haben Bewerber, die in ihrer Schulzeit nicht glänzen konnten.

Christian Rauch, Arbeitsagentur-Chef in Baden-Württemberg, sieht großes Potenzial in dieser Gruppe junger Menschen. «Auch wenn der Bewerber auf den ersten Blick nicht der Wunschkandidat war – ihn anfangs etwas intensiver zu betreuen und zu fördern, zahlt sich auf lange Sicht für die Unternehmen aus: Häufig bleiben die Auszubildenden dem Betrieb treu.» Die Arbeitsagentur bietet diverse Hilfen an, darunter sogenannte Einstiegsqualifizierungen – also vor allem die Finanzierung von Praktika.

Bertelsmann-Experte Wieland sieht es ähnlich wie Behördenchef Rauch. «Der Klebeeffekt bei solchen Azubis ist größer», sagt er. «Sie bleiben nach der Lehre viel häufiger im Betrieb, während der Azubi mit Abi nach dem Ausbildungsabschluss oft noch auf die Uni will.» Bei deutschen Firmen findet nach Wielands Einschätzung allmählich ein Umdenken statt. «Die meisten Unternehmen konnten jahrzehntelang aus dem Vollen schöpfen, bei der Auswahl ihrer Azubis nur die besten nehmen – diese Zeiten sind vorbei», sagt der Bertelsmann-Experte. «Anstatt Bewerber wegen schwächerer Noten sofort abzulehnen, gucken die Unternehmen inzwischen lieber zweimal hin.»

Bei den Kandidaten aus der zweiten Reihe handelt es sich meistens um Menschen, die nach der regulären Schulzeit im sogenannten Übergangssystem gelandet sind – also bei beruflichen Schulen oder in berufsvorbereitenden Maßnahmen. Böse Zungen sagen, dort würden die jungen Leute bloß «zwischengeparkt» – einziger Sinn und Zweck dieser Maßnahmen ist die Vermittlung in Ausbildung und generell in den Arbeitsmarkt, anerkannte Abschlüsse gibt es nicht.

Auch Neu-Azubi Schira hat eine solche Maßnahme besucht, wo sie Unterricht und Bewerbungshilfen erhalten habe. Von zwölf in der Maßnahme hätten es bisher nur zwei geschafft. «Ich bin eine davon», sagt Schira. Sie wolle nach dem Azubi-Abschluss auf jeden Fall bleiben, sagt sie. «Automobil-Kauffrau ist mein Traumberuf – Studieren wäre nicht so meins», sagt sie. Der Chef nickt und lächelt.

Neben den beiden steht Nils Apelt, ebenfalls Azubi in dem Autohaus mit seinen 30 Beschäftigten. Ähnlicher Fall: schlechte Schulnoten, schwierige Lehrstellen-Suche. Seit September 2015 ist er Azubi. «Na klar will ich bleiben», sagt der 21-Jährige und schiebt etwas schüchtern hinterher: «Wenn es die Möglichkeit gibt.» Die gibt es – der Firmenchef plant auch nach der Lehre fest mit ihm, Apelt soll langfristig mithelfen bei dem Ausbau der Geschäfte.

Der Einstieg erfolgte bei beiden über ein halbjähriges Praktikum. Sie hätten sich als kommunikativ starke, gut motivierte Mitarbeiter bewiesen, sagt Daub. Und die schlechten Schulnoten? «Die Rechtschreibung muss ordentlich sein, aber die Noten in Bio oder Physik sind nicht so relevant – da war ich in meiner Schulzeit früher auch nicht so der Held», meint der 38-Jährige. Die Mitarbeiter dürften nicht zimperlich sein, auch bei Regen müsse man mal raus auf den Parkplatz. «Es bewerben sich auch junge Leute mit guten Noten auf die Ausbildung, aber die sind oft schlechte Schaffer.»

Fotocredits: Patrick Pleul
(dpa)

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